Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
Ende vergangenen Jahres erhielt ich den Brief einer Mutter, deren 11-jährige Tochter in der Schule die DDR zeichnen sollte. Die Zeichnung des Kindes lag dem Brief bei: Der Vordergrund, mit „DDR“ beschriftet, zeigt eine liegende Person mit kreisrund aufgerissenem Mund, aus deren Körper Blut fließt, flankiert von zwei Soldaten. Der Hintergrund ist durch einen dichten Zaun abgetrennt, hinter dem ein Hausdach mit rauchendem Schornstein zu sehen ist und dass die Aufschrift „Freiheit“ trägt.
Die Mutter, Frau Uta F., teilt über sich selbst mit, dass sie in der DDR aufgewachsen, in den 80er Jahren aber ausgereist sei. Und sie schreibt: „Sie waren einer der zentralen Beteiligten an der Wende. Deshalb wende ich mich an Sie. Soll tatsächlich ein solches Bild der Vergangenheit gezeichnet werden? Es erstaunt mich doch, in welchem Licht ganz junge Menschen heute die DDR sehen, die nichts damit zu tun gehabt haben. Sehen Sie das genau so?“
Mit ähnlichen Reaktionen, zwischen Unbehagen und Empörung, werde ich häufig konfrontiert.
Nach reiflicher Überlegung nehme ich diesen Brief und beiliegendes Bild mit Einverständnis von Frau F. zum Anlass, meine Reaktion darauf Ihnen als höchstem Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland zu übermitteln. Und ich wähle die Form des offenen Briefes, da mir mehrfach die Enttäuschung von Persönlichkeiten der DDR vorgetragen wurde, die sich an Sie gewandt hatten, um Ihnen ihre honorigen Gründe für ein engagiertes Leben in der DDR darzulegen und im Interesse des vereinten Deutschland für eine Sicht auf das gescheiterte Land plädierten, die sich nicht in Delegitimierung erschöpft. Die Antworten aus ihrem Mitarbeiterkreis gingen am Kern des Anliegens vorbei.
Die Bedeutung Ihres hohen Amtes liegt nicht zuletzt in der Stil gebenden Ausübung Ihrer repräsentativen Funktion als Präsident des ganzen Volkes. Zum Umgang mit der Frage, die mir Frau Uta F. in ihrem Brief stellt, haben Sie sich für einen Stil entschieden, der nicht nur für die Fragestellerin enttäuschend sein dürfte. Nach Veröffentlichung einer Studie der Freien Universität Berlin mit Bewertung über das Wissen von Schülerinnen und Schülern über die DDR hielten Sie es für angebracht, in einem Gespräch mit ausgewählten Schülerinnen und Schülern davor zu warnen, die DDR zu „verklären“ und die soziale Sicherheit zu loben. Die „scheinbare Vollbeschäftigung“ sei mit enormen Auslandsschulden, verdeckter Arbeitslosigkeit, Raubbau an der Natur und einer Absenkung des Lebensstandards erkauft worden.
Ich habe mich am 1. Februar 1990 für eine etappenweise Vereinigung der beiden deutschen Staaten eingesetzt und galt über Jahre in den Medien der Bundesrepublik Deutschland (nicht der DDR) als politischer Hoffnungsträger. Dennoch möchte ich hier nicht meine eigene kritische Sicht auf die Geschichte der DDR und der beiden deutschen Nachkriegsstaaten darlegen. Die gescholtene „Verklärung“ sozialer Sicherheit in der DDR hat aber zweifelsfrei mit heutiger Erfahrung sozialer Verunsicherung und Deklassierung zu tun, die wiederum auch Ursachen im Verfahren beim Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland hat. Sie trugen als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium für die Tätigkeit der Treuhandanstalt eine Mitverantwortung für das vorgegebene Tempo der Privatisierungen, bei dem die Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland keine Rolle spielen konnte. Ich war Mitglied des Deutschen Bundestages, als Sie im Treuhanduntersuchungsausschuss zur Abwicklung des Volkseigentums durch die Treuhandanstalt aussagten: „Bei Abwicklung musste das gemacht werden, was zu machen war. Es ging ja auch um Auffangmaßnahmen. Wir haben die Treuhandanstalt ja in diese ABM-Maßnahmen usw. reingebracht. Das war notwendig. Ich habe jetzt nicht im einzelnen die Effizienzkontrolle im Kopf, wo wir die Abwicklungsausgaben sozusagen im einzelnen irgendwo nachvollzogen haben, aber wir haben die Kontrolle, Aufsicht über die einzelnen Fälle versucht, dafür zu sorgen, dass das alles rechtmäßig zugeht und dass das auch im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten liegt.“ Im Resultat ist das Volkseigentum der DDR zu 85% in den Besitz bundesdeutscher Unternehmen, zu 10% in die Hände ausländischer Unternehmer und nur zu 5% zum Eigentum Ostdeutscher geworden.
Vielleicht sollte solchen Fakten in den Schulen mehr Aufmerksamkeit geschenkt und den Schülerinnen und Schülern neben den inneren auch die äußeren Zusammenhänge der Vereinigung mit dem 2-plus- 4-Vertrag vermittelt werden. Dieser Vertrag verweist schließlich auf die Nachkriegsgeschichte und den Platz beider deutscher Staaten in ihr.
Im Juni 1961 trafen sich Chruschtschow und Kennedy in Wien und beide wussten, die Welt beginnt zu einem Pulverfass zu werden. Jeder Schritt, der die Rechte einer der Siegermächte über den Hitlerfaschismus in der bestehenden Nachkriegsordnung berührt, kann zum Auslöser eines neuen Weltkrieges werden. Für einen solchen Fall haben sich sowohl Eisenhower als auch Kennedy zu einer bewaffneten Auseinandersetzung, notfalls einem „totalen Krieg“ unter Einsatz von Nuklearwaffen bekannt. Da aber mit dem Berliner Mauerbau die alliierten Zugangsrechte nach Westberlin nicht betroffen waren, griffen die Westmächte nicht ein. Was am 13. August in Berlin geschah, war nicht einfach der Mauerbau in Berlin, sondern das Schließen der Grenze von der Ostsee bis an die griechische und türkische Grenze, über die DDR, die CSSR und Ungarn bis Bulgarien. Die beiden militärischen und, nicht zu vergessen, wirtschaftlichen Blöcke Warschauer Vertrag/RGW und NATO waren bei gegenseitiger Akzeptanz der Siegermächte durch eine militärisch gesicherte Grenze voneinander getrennt, mit den bittersten Folgen für Menschen, einschließlich dem Verlust von Leben und Gesundheit. Zwischen zwei deutschen Staaten verlaufend war diese Grenze auch gegen anhaltenden „Aderlass“, d.h. wirtschaftliche Schädigung, gerichtet, wiederum auch mit destabilisierenden Auswirkungen für den Staatenblock. Die Trennlinie zwischen den Blöcken war ein Umstand, an dem die Sowjetunion, nicht zuletzt auch ihr Präsident Gorbatschow, bis zum 9. November 1989 immer festgehalten hat; ein Umstand, an dem auch die übrigen drei Siegermächte des 2. Weltkrieges stets festhielten, ungeachtet rhetorischer Anklagen gegen die „Mauer“. Als die beiden deutschen Nachkriegsstaaten im September 1973 zur gleichen Stunde Mitglieder der Vereinten Nationen wurden und auch danach, wurde das Thema dieser Grenze im Rahmen der Völkergemeinschaft nicht berührt, ging es dabei doch immer auch um die Interessen der Siegermächte. Aus meiner Sicht waren das Versäumnisse auf und nach der Konferenz von Helsinki im Jahre 1975.
Heute sind selbst junge Menschen mehr denn je mit den Zusammenhängen zwischen lokalen und globalen, zwischen kurz- und langfristigen Entwicklungen konfrontiert. Da wäre es durchaus naheliegend und zeitgemäß, auch die Geschichte der beiden deutschen Nachkriegstaaten eher in solchen Zusammenhängen zu betrachten als in den gängig selektiven Klischees von Gut und Böse.
Ich komme auf den Anlass meines offenen Briefes zurück. Herr Präsident, vielleicht prüfen sie noch vor der Wahl im Mai 2009, ob es die Aufgabe der deutschen Schule sein kann, einen Gewissenskonflikt zwischen Eltern und Kindern auszulösen und ob die Schule Wissen vermitteln soll, das sich auch 20 Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten an Bildern des Kalten Krieges orientiert, die nicht zur Achtung und Versöhnung beitragen.
Meinen Anspruch an den neuen Präsidenten oder eine Präsidentin der Bundesrepublik Deutschland als, wie Frau F. schreibt, ein „zentraler Beteiligter an der Wende“, bringe ich hier mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Es war Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der im Mai 1985 in einer international sehr beachteten Rede, die ich mit großer Achtung zur Kenntnis nahm, von der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus sprach und damit den historischen Raum damaliger Gegenwart absteckte und wertete. Die Existenz zweier deutscher Staaten war Teil dieser Geschichte. Bis in das Jahr 2010 werde wir Jahrestage begehen, die Abschnitte darin markieren. Im Jahr 2009 werden wir Wahlen und Wahlkämpfe haben. Die Parteien und ihre Repräsentanten werden sich in den Wahlkämpfen und zu den verschiedenen Jahrestagen verhalten. Nach meinem Verständnis liegt es in der Verantwortung des Bundespräsidenten mit dem Stil der Ausübung seines hohen Amtes einem politischen Gebrauch dieser Anlässe entgegenzutreten, der die Würde von Menschen im östlichen Teil des Landes verletzt und ihnen die Achtung verweigert.
Abschließend ein persönliches Wort. Bundespräsident Rau sah sich dem Grundsatz verpflichtet „Versöhnen statt spalten“. Daraus ergab sich auch sein Wunsch nach einem etwa jährlichen Austausch mit mir über reale und mentale Entwicklungen im Osten des Landes. Als der Präsident Polens, Herr Kwasniewski, zur Eröffnung des deutsch-polnischen Jahres 2005/2006 Ihr Gast in Berlin war, nahm ich auf seine Einladung hin am Konzert und Empfang im Konzerthaus teil. Nach freundschaftlichem Gespräch zwischen Ihrem Gast und mir stellte ich mich Ihnen höflich vor und bat Sie mit Hinweis auf meinen regelmäßigen Austausch mit Herrn Rau um ein Gespräch. Sie sahen keinen Anlass darauf zurück zu kommen.
Mit hochachtungsvollem Gruß
Hans Modrow
MP a.D.
Mittwoch, 4. Februar 2009
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